Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft

Es war Sommer 1989, wenige Monate vor dem Fall der Mauer. Deutschland erlebte eine Flüchtlingswelle aus dem Osten, wie es sie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr erlebt hatte. Es fehlte an vielem, insbesondere an halbwegs menschenwürdigen Unterkünften für die eintreffenden Menschen.

Da ich beruflich sehr nahe an dem Thema dran war, hatten Renate und ich uns sehr schnell entschlossen, unser ausgebautes Dachgeschoss als vorübergehende Unterkunft für wenigstens eine Flüchtlingsfamilie zur Verfügung zu stellen.

 

Ich nahm also Kontakt mit der in Hamburg zuständigen Behörde auf, mit der ich auch beruflich hin und wieder zu tun hatte, und erklärte unsere Bereitschaft, einige Flüchtlinge wenigstens vorübergehend bei uns aufnehmen zu wollen. Die Mitarbeiterin der Behörde war sehr angetan, fragte aber noch einmal nach, wie viele Personen wir denn aufnehmen könnten. Meine Antwort, dass wir vielleicht drei bis vier Personen aufnehmen könnten, schien sie nicht sonderlich zu begeistern. „Um Himmels willen,“ entfuhr es ihr, „ich brauche Platz für mindestens 300 bis 400 Personen.“ „Damit kann ich leider nicht dienen,“ ließ ich sie wissen, „aber falls sie Platz für drei bis vier Personen benötige, könne sie an mich denken.“ Damit war das Gespräch zunächst beendet.

Es dauerte nur wenige Stunden bis mich die Mitarbeiterin der Behörde wieder anrief und fragte, ob unser Angebot noch stehe, dass wir drei Personen vorübergehend aufnehmen wollen. Sie erwarte nämlich ein deutschstämmiges Ehepaar mit Tochter aus Polen, das über Friedland nach Hamburg verteilt wurde und bei uns dann Aufnahme finden könnte. Da wir uns schnell einig waren, musste nur noch eine Frage geklärt werden. Die Familie wurde nämlich nach Hamburg verteilt und wir wohnen in Schleswig-Holstein. Aber auch dafür hatte die Mitarbeiterin eine geniale Lösung. Die Familie wurde in eine Notunterkunft in Hamburg eingewiesen und in einer Aussenstelle in Schleswig-Holstein untergebracht.

Als die Formalitäten einschliesslich der Kostenerstattung für Unterkunft und Verpflegung geklärt waren, machten wir uns daran, die Dachgeschosswohnung herzurichten. Ein zusätzliches Bett musste aufgestellt, ein Kühlschrank nach oben geschafft, Schränke montiert und die Betten bezogen werden usw. Obwohl auch die Jungs mit anpackten, waren wir noch lange nicht fertig, als es an der Haustür klingelte und unsere neuen Mitbewohner vor der Tür standen.

Nach einem kurzen Hallo und Herzlich Willkommen und einem flüchtigen Kennenlernen, packten jetzt alle mit an und wir schafften ein kleines, überschaubares Paradies, in dem sich unsere Mitbewohner schnell wohlfühlten.

Schon bald gehörten sie gewissermassen zur Familie und wir haben vieles miteinander unternommen. Besuche bei Hagenbeck, an der Ostsee und in Freizeitbäder gehörten dazu, sowie Sightseeing in Hamburg und Verschiedenes mehr. Wir haben zusammen gegrillt und gefeiert und wir waren füreinander da.

So half Renate der Tochter zum Beispiel ein wenig beim Erlernen der deutschen Sprache und ich half hin und wieder bei Behördenangelegenheiten, insbesondere bei der Eingliederung der Tochter in das Berufsleben als Krankenschwester, was uns mit vereinten Kräften schliesslich auch gelang. Ein Krankenhaus in Hamburg-Wandsbek kann heute noch dankbar sein, dass es sie in ihren Reihen hat. Und sie war auch nicht ganz unschuldig daran, dass mir vor einiger Zeit in so wundervoller Weise in eben diesem Krankenhaus geholfen wurde.

Statt der zunächst geplanten wenigen Wochen lebten wir inzwischen schon ein Jahr zusammen und fühlten uns als grosse Familie, als es einem Behördenmitarbeiter in Hamburg offensichtlich auffiel, dass unsere Mitbewohner ja ursprünglich nach Hamburg verteilt wurden, aber in Schleswig-Holstein wohnten. Vermutlich war das in seinen Augen ein unhaltbarer Zustand und er forderte unsere Mitbewohner auf, sich umgehend in einer Turnhalle in Hamburg zu melden, um dort künftig Unterkunft zu beziehen.

Renate fuhr also mit ihnen zu dieser besagten Turnhalle, um zu sehen, was sie dort erwarten würde. Als insbesondere die Tochter die künftige Unterkunft in der Turnhalle gesehen hatte, in der die einzelnen Familien lediglich durch Vorhänge oder ähnlichem voneinander getrennt waren, war sie unendlich traurig und verstand die Welt nicht mehr. Wir allerdings auch nicht.

Renate lud unsere Mitbewohner deshalb sofort wieder ins Auto und fuhr zurück zu uns nach Hause. Dort haben wir uns gleich zusammengesetzt und beraten, was zu tun sei. Wir waren uns sehr schnell einig, dass unsere Mitbewohner sich in Hamburg abmelden und sich bei uns in Schleswig-Holstein anmelden, auch wenn dadurch einige Vergünstigungen, wie z.B. die Kostenerstattung für Unterkunft und Verpflegung und die Wohnraumvermittlung entfallen würden. Noch heute sind wir alle froh über unsere damalige Entscheidung und wir rückten noch näher zusammen.

Renate hatte sich zu dieser Zeit dankenswerterweise voll der Erziehung unserer drei Kinder gewidmet und sie hat unser Haus mit sehr viel Wärme erfüllt.

Irgendwann rief die ehemalige Firma von Renate an und fragte, ob sie künftig nicht wenigstens als Urlaubsvertretung dort tätig sein könnte, da man ziemlich viel zu tun hätte und mit anderen Urlaubsvertretungen keine guten Erfahrungen gemacht hatte, insbesondere weil man jemanden brauche, der die technischen Belange mit den kaufmännischen Notwendigkeiten in Einklang bringt.

Als unsere Mitbewohnerin erfuhr, was die ehemalige Firma von Renate erbeten hatte, sagte sie zu ihr: „Gehe Du man arbeiten, ich kümmere mich insbesondere um Euren Kleinen und bringe ihn zum Kindergarten und hole ihn von dort ab.“ Ohnehin war unsere Mitbewohnerin so etwas wie ein Oma-Ersatz für unseren Jüngsten. Immer wenn er mit unserer Erziehung nicht einverstanden war, schloss er die Tür hörbar hinter sich und verschwand nach oben, um sich dort einige Streicheleinheiten und vielleicht auch einen Bonbon abzuholen. Auf jeden Fall nahm Renate das Angebot von unserer Mitbewohnerin dankbar an und unterstützte ihre ehemalige Firma, wann immer sie gebraucht wurde.

Obwohl wir uns ursprünglich auf einige Monate mit unseren neuen Mitbewohnern eingestellt hatten, wurden es schließlich drei Jahre, in denen wir zusammen unter einem Dach lebten und es war eine sehr schöne Zeit.

Auch mit Hilfe des damaligen Bürgermeisters gelang es schließlich, für unsere Mitbewohner eine bezahlbare und schöne Wohnung zu finden.

 

Heute lebt die Familie in einem schönen Häuschen hier im Ort mit einem noch schöneren Garten, leider allerdings nur noch zu zweit, weil der Vater vor einiger Zeit gestorben ist.

 

Wir alle denken aber sehr gerne zurück an die gemeinsame Zeit unter einem Dach und es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.

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